Die Handwerksbetriebe in Deutschland haben kaum noch Azubis. Das Handwerk ist nicht beliebt bei den Jugendlichen. Warum eigentlich?
Nordseeinsel Borkum. Hier ist die Heimat des Dachdeckers Wolfgang Menne. Bei schöner Meeresluft wird hier auf den Dächern gearbeitet. Doch der Chef schüttelt den Kopf, wenn er nach seinen Erfahrungen mit Auszubildenden gefragt wird.
„In den letzten Jahren hat sich bei der Jugend einiges geändert“, meint er. Nicht nur die Arbeitsmoral ist schlechter geworden, auch die Qualität der jungen Leute hat sich sehr verändert.
Menne hat in seiner fast 40-jährigen Karriere als Dachdeckermeister mehr als 40 junge Leute im Dachdecker-Handwerk ausgebildet, sieben davon sind sogar Meister geworden.
Arbeiten bei Hochseeklima
Wir sind auf einer alten Straße in Borkum. Ringsherum sind Ferienhäuser mit Namen wie „Weißer Seehund“, „Villa Ems“ oder „Zur Sanddüne“.
Die Luft riecht und schmeckt salzig, es geht ein kräftiger Wind. Vom Dach aus kann man die Nordsee sehen, nur wenige Dächer trennen das Haus vom Strand. Eigentlich ein idyllischer Ort zum Arbeiten. Heute müssen Pfannen ausgewechselt werden bei einem Dach, auch der First, die Spitze des Daches, hat eine Leckstelle und muss neu gemacht werden.
Wolfgang Menne steht mit seinem Lehrling auf dem Dach und schiebt ein paar Dachpfannen hoch. Mit geschickten Handgriffen wird die kaputte Dachpfanne herausgenommen und durch eine neue ersetzt. Nur wenige Meter weiter wird dieser Arbeitsschritt wiederholt.
Sein Lehrling schaut ihm auf die Hände und gibt ihm das Werkzeug und die Dachpfannen an. Nur kurze Zeit später sitzen die beiden auf dem Dach und montieren die alten First-Ziegel ab. „Kein Tag ist wie der andere, jeden Tag gibt es was neues“, erklärt mir Mennes Lehrling Marco.
Er erzählt, dass es immer sein Traumberuf war, Dachdecker zu werden, und es ihm jeden Tag Spaß macht „anderen Leuten aufs Dach zu steigen.“
„Im letzten Jahr gab es gerade einmal eine Hand voll Bewerbungen für meinen Betrieb, das war vor zehn Jahren noch ganz anders“, berichtet Wolfgang Menne.
Die Wenigsten haben noch einen Hauptschulabschluss, meistens sind es Schulabbrecher. Die Bewerbungen von Abiturienten in seiner gesamten Laufbahn kann er an einer Hand abzählen. Dabei ist das Dachdecker-Handwerk ein Job mit großer Zukunftsperspektive.
In einem Zeitalter, in dem immer mehr Jobs von Maschinen verdrängt werden, ist das Handwerk ein stetiger Garant für Arbeit. „Ich bin mir sicher, dass es selbst in 100 Jahren noch Dachdecker geben wird. Es gibt viele Dinge die durch Maschinen ersetzbar sind, aber mit Dachpfannen ein Dach zu decken gehört nicht dazu“, erklärt Menne stolz.
Ein Beruf mit vielen Facetten
Die Handwerkskammer Ostfriesland hat 2011 eine Statistik erhoben, welche Schulbildung die angehenden Auszubildenden haben bevor sie mit der Ausbildung beginnen.
Von den 24 Dachdeckern im ersten Lehrjahr hatten 17 einen Hauptschulabschluss, sechs einen Realschulabschluss und nur einer Abitur. Im Vergleich mit den anderen Handwerksberufen ist es ähnlich: Von den 231 Berufsanfängern hatten nur neun Abitur und 67 einen Realschulabschluss.
Gearbeitet wird im Dachdecker-Handwerk direkt beim Kunden. Es ist also nicht nur handwerkliches Geschick von Nöten, sondern auch ein freundlicher Umgang mit Menschen wird verlangt. Ein Beruf mit vielen Facetten.
Dennoch zieht es immer weniger junge Menschen in die Handwerks-Betriebe. Wolfgang Menne kennt die Probleme. Kaum einer will von zu Hause weg, oder ist bereit schwere körperliche Arbeit zu leisten.
„Der Zeitgeist hat sich geändert. Es sollten Computerspiele erfunden werden, die die Dachdecker-Arbeit auf Action-Basis zeigen, vielleicht bringt das etwas“, sagt Menne mit einem Grinsen im Gesicht. Trotz vielschichtiger Arbeit, dem nicht-linearen Arbeitsablauf und der immer wieder wechselnden Tätigkeiten, sind ein Rückgang der Lehrjungen und -mädchen deutlich spürbar.
Auf den Baustellen Deutschlands sieht man viele Männer im mittleren Alter.
Menne hat das Dach wieder repariert. Er und sein Lehrling Marko sammeln ihre Werkzeuge ein und klettern die Leiter herunter. Der Chef geht zuletzt vom Dach und kontrolliert mit einem prüfenden Blick seine Arbeit. Als er unten angekommen ist, verzieht er das Gesicht. „Mein Rücken!“, klagt er.
Vor knapp 20 Jahren ist er vom Dach gefallen. „Das war in meinem ersten Jahr als Geselle“, erklärt er. Damals hat er die Decke eines Schwimmbads mit Dachpappe bedeckt. „Früher gab es noch keine Rollen, so wie es sie heute gibt“, sagt Menne und erzählt von der Vergangenheit: „Da wurden die Dachflächen mit flüssigen Teer gedeckt – Knochenarbeit.“
Er stand auf der Betondecke und hatte den Teer-Eimer neben sich, als plötzlich die Decke nachgab. Menne fiel zehn Meter in die Tiefe – mit der Betondecke. Die Folge: Ein Wirbelbruch und monatelanger Aufenthalt in einem Krankenhaus, mit anschließender Physiotherapie. „Ich kann von Glück sagen, dass ich nicht im Rollstuhl gelandet bin“, erzählt er und blickt ins Leere. In zwei Jahren geht er in Frührente, mit 55.
Verantwortlich dafür ist der Unfall. Der Job als Dachdecker ist nicht ungefährlich. Vielleicht entscheiden sich deswegen nur wenige für den Beruf.
Ausbildungswege haben sich verändert
Vor ein paar Jahren gab es eine Änderung der Ausbildungswege. Es wurde das Berufs-Grundbildungs-Jahr (BGJ) abgeschafft.
Dort hatten Berufsanfänger die Möglichkeit innerhalb eines Jahres verschiedene Handwerksberufe kennenzulernen – Maurer, Tischler, Maler und Dachdecker. Nun muss der Beruf den jungen Menschen schmackhafter gemacht werden. Dabei ist die Ausbildung zum Dachdecker die Lehre mit der zweithöchsten Ausbildungsvergütung.
Im dritten Lehrjahr verdienen die Azubis bereits 845 Euro. Höher vergütet werden nur die Lehrlinge im Gerüstbau. Trotzdem sind Zahlen der Auszubildenden im Handwerksbereich rückläufig.
Menne und Marko machen Feierabend. Sie haben ihr Soll für den Tag erfüllt und bringen ihre Gerätschaften ins Lager. Beide sind sichtlich erschöpft von ihrer getanen Arbeit. Sie zünden sich eine Zigarette an und lehnen sich einen Stapel Holzbalken.
„Gute Arbeit“, sagt er seinem Lehrjungen Marko und klopft ihm dabei auf die Schulter. „Und morgen geht es mit dem gleichen Fleiß, wieder an den gleichen Scheiß“, sagt Menne und schaut seinen Lehrling an. Beide fangen an zu lachen. Beide laufen zum Auto und fahren sichtlich zufrieden nach Hause.