Es könnte ein neuer urbaner Trend werden: Reverse Graffiti. Hinter diesem Namen steckt eine spezielle Graffiti-Technik: Mit Hilfe eines Sandstrahlers und einer Schablone entstehen an Wänden einzigartige Bilder.
Ich stehe vor einer großen Halle irgendwo in Köln-Nippes. Aus der Halle ertönen verschiedene Instrumente, ich meine eine Oboe und eine Trompete zu erkennen. Bevor ich länger darüber nachdenken kann, kommt Tim Ossege um die Ecke. Tim trägt eine abgewetzte Jeans, ein T-Shirt mit aufwendigem Aufdruck und eine dunkle Basecap.
Auf seinem Rücken befindet sich ein riesiger Rucksack. Wir begrüßen uns und er möchte mir auf jeden Fall noch sein Atelier zeigen. Ich folge ihm in die Halle und die Instrumente werden ein wenig lauter. Wir laufen die Gänge entlang und stolz öffnet er mir die Tür zu seinem Reich. „Seit gestern hab ich hier mein Atelier – zu Hause wurde es zu eng für meine Sachen.“
Und man sieht auch sofort warum: Überall an den Wänden hängen Skizzen, auf dem Boden sind verschiedene Kunstwerke in den unterschiedlichsten Stadien zu sehen und in der Mitte des Raumes ist ein kleiner Schreibtisch – noch ohne Stuhl. Auf dem Schreibtisch befinden sich ein Laptop, ein Beamer und eine Art Drucker.
Tim erklärt mir kurz, was es mit den Sachen auf sich hat: „Ich zeichne fast nur noch am Computer und kann mir meine Bilder dann ganz leicht ausdrucken.“ Der gelernte Grafiker zeigt auf den Drucker und betont, dass es kein normaler Drucker ist: „Das ist ein Plotter. Genauer gesagt ein Schneid-Plotter.“ Man legt eine Folie in den Plotter und dieser „ritzt“ bzw. schneidet das Bild auf die Folie.
„Ich muss nur noch mit dem Messer die Linien nachfahren und habe am Ende eine perfekte Schablone.“ Je nach Motiv ist das eine ganz schöne Arbeit, denk ich mir. Und das ist es auch – für ein DIN-A4 großes Bild braucht Tim schon mehrere Stunden. Einige seiner Bilder sind einen Quadratmeter groß, dafür braucht er dann mehrere Tage.
Stafette aus Stein
Wir sind auf dem Weg zur Zülpicherstraße, Köln. Dort wo sich vorwiegend Studenten treffen, soll ein neues Kunstwerk die Wände zieren. Das ist das Schöne an der Technik von Tim: „Ich kann meine Bilder überall an die Wand sprühen, wo es eine dreckige Wand gibt“, sagt der Künstler und lächelt dabei ein wenig verschmitzt.
Und davon gibt es ja in den deutschen Großstädten bekanntlich genug. Das lässt natürlich auch vermuten, dass hinter dieser urbanen Kunstform auch ein wenig Kritik an der Gesellschaft mitschwingt. „Es ist natürlich auch ein wenig Gesellschaftskritik“, erklärt der junge Graffiti-Künstler, „Ich mache ja schließlich den Dreck weg und mach daraus Kunst.“
Wir sind angekommen – Tim hat einen Platz für sein neustes Werk gefunden. Direkt an der Zülpicherstraße, unweit der Bahnstation. Er muss erst ein paar Vorbereitungen treffen, bevor er mit seinem Bild anfangen kann. Er stellt seinen Rucksack ab und fängt an den Inhalt auszuräumen.
Was er dort auf die Straße stellt, sieht erst gar nicht nach Kunst aus – eine Druckluftflasche, eine Plastikbox mit Sand gefüllt und eine Art Spritzpistole. Danach kommen noch eine Schutzbrille und Atemmaske, die sich Tim sogleich aufsetzt. Einige Passanten laufen vorbei, andere bleiben stehen und schauen Tim zu – doch so gut wie jeder, der vorbeiläuft, riskiert einen Blick.
Der Graffiti-Künstler rollt seine Vorlage aus und klebt sie an eine kleine Stelle an der freien Wand. Das Motiv lässt sich nur erahnen, Gesichtszüge und Haarsträhnen lassen sich erkennen. Ich bin sehr gespannt auf das Ergebnis
Tim hat seine Vorbereitungen abgeschlossen und gibt mir ein Zeichen, dass es losgeht. Es sieht ein wenig so aus, als würde er die Wand lackieren – Mit Schutzbrille, Atemmaske und einer Farbpistole in der Hand hat er mehr was von einem typischer Lackierer, als von einem Künstler.
Und so ganz falsch ist der Gedanke nicht: Tim sprüht Sand auf seine Schablone. An den freien Stellen wird so die oberste Schicht abgetragen. So entsteht nach und nach ein Bild – das Gesicht einer Frau. Neben uns stehen mittlerweile viele Passanten und unterhalten sich über die Tätigkeiten des jungen Mannes.
„Das sieht stark aus“, sagt eine junge Frau und unterhält sich angeregt mit ihren Freundinnen. Ein junge Mutter läuft mit ihrem Kind vorbei und macht sogar das Kind auf das Bild aufmerksam: „Guck Mal, wie schön das aussieht.“
Auf frischer Tat ertappt
Doch nicht alle sind begeistert von dem Tun des 28-Jährigen. Eine Polizeistreife fährt an uns vorbei und hält wenige Meter weiter an. Zwei Polizisten steigen aus und kommen direkt auf uns zu.
Ich bin nervös, doch Tim winkt schon ab: „Das kenn ich schon“. Tim unterbricht das Sprühen, nimmt die Maske ab und begrüßt die Polizisten. „Darf ich fragen, was Sie da machen?“, fragt einer der Polizisten.
Er erklärt den Polizisten, wie er die Graffitis an die Wand bekommt, und dass er schön öfter von der Polizei befragt wurde. „Das ist eine rechtliche Grauzone“, erklärt er den Polizisten mit einem Lächeln im Gesicht.
„Es gibt kein Gerichtsurteil, dass es verbietet, die Wand von Schmutz zu entfernen“. Die beiden Polizisten hören ihm zu, nehmen aber am Ende noch seine Personalien auf. „Wenn das so stimmt und wir nichts über Sie herausfinden, werden Sie nichts von uns hören“, sagt der Polizist und schreitet mit seinem Kollegen wieder zurück zum Auto.
Tim kommt auf mich zu und erklärt mir, dass er sich vor nichts fürchten braucht, wenn er sich von öffentlichen und privaten Gebäuden fernhält – solange es kein eindeutiges Verbot gibt.
Es war ein interessanter Tag mit dem urbanen Künstler. Kunstwerke auf dreckigen Wänden entstehen lassen, halte ich für eine tolle Idee, die auch noch jede Stadt ein wenig kunstvoller erscheinen lassen könnte. Tim betreibt eine Fanseite auf Facebook. „Sei Leise“ heißt sie. Dort macht er immer wieder auf seine Bilder aufmerksam.
Leider haben seine Kunstwerke ein Haltbarkeitsdatum: Nach ca. sechs Monaten sind die Bilder durch neuen Schmutz überdeckt. Das macht aber nichts, dreckige Wände gibt es genug.